User Interface 13.06.2023, 16:54 Uhr

Erfolgsfaktor Barrierefreiheit

Das kommende Barrierefreiheitsstärkungsgesetz stellt Unternehmen vor Herausforderungen und Handlungsbedarf: Websites und Apps müssen angepasst und barrierefrei gestaltet werden. Das bedeutet nicht nur Aufwand, sondern auch Chance.
(Quelle: dotnetpro)
Im Sommer 2021 wurde mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) der European Accessibility Act in deutsches Recht übersetzt. Das BFSG wird am 25. Juni 2025 in Kraft treten und soll einen Beitrag leisten zu einer inklusiven Gesellschaft, in der alle Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen können. Das ist die Zielversion der Europäischen Union, die hinter diesem Gesetz steht. So soll das BFSG dazu beitragen, allen Menschen die Teilhabe am Wirtschaftsleben zu ermöglichen. Dies schließt beispielsweise Menschen mit Behinderung, aber auch ältere Personen und Menschen mit wenig Erfahrung im Umgang mit digitalen Medien ein. Hierzu ist in erster Linie die digitale Barrierefreiheit gefordert.
Damit konfrontiert das BFSG Firmen mit Anforderungen, die einen Handlungsbedarf nach sich ziehen. Denn das Gesetz fordert und fördert die Barrierefreiheit von Websites und Apps, die bislang nur auf den wenigsten Seiten privater Anbieter gegeben ist. Fast alle Firmen in Deutschland mit eigener Website müssen also ihre Web-Angebote grundlegend prüfen und überarbeiten. Der Aufwand, der dadurch nötig wird, ist nicht zu unterschätzen. Doch bietet das BFSG auch attraktive Chancen. Denn wenn seine Umsetzung konsequent und ganzheitlich passiert, kann mit den Anpassungen zum BFSG auch die User Experience und somit der Geschäftserfolg optimiert werden.

Elektronische Produkte und Dienstleistungen müssen robust, wahrnehmbar, bedienbar und verständlich sein

Bislang unterliegen durch das BITV 2.0 bereits öffentliche Einrichtungen wie Behörden der Pflicht, ihre Webpräsenz barrierefrei zu gestalten. Diese Pflicht wird nun auch auf Unternehmen in der Privatwirtschaft (ab zehn Mitarbeitenden oder 10 Mio. Euro Jahresumsatz) ausgeweitet und betrifft sowohl elektronische Produkte als auch Dienstleistungen (Online-Services).
Bei der Nutzung elektronischer Produkte (zum Beispiel Smartphones) muss die Möglichkeit bestehen, Informationen auf mehr als einem sensorischen Kanal zu vermitteln. Schriftliche Informationen müssten zum Beispiel auch vorgelesen werden können. Zudem müssen Informationen auch für Personen verständlich sein, deren Sehkraft eingeschränkt ist, das Smartphone muss es also ermöglichen, Schriften zu vergrößern oder farbliche Kontraste zu verändern.
Für elektronische Dienstleistungen wie beispielsweise Onlineshops, Online-Terminvereinbarungen oder auch allgemeine Informations-Websites gelten die BFSG Regeln analog. Das bedeutet, dass die meisten Unternehmen in Deutschland ihre Online-Dienste und -Repräsentationen im Hinblick auf Barrierefreiheit prüfen sollten.
Auf Websites bezogen bedeutet Barrierefreiheit, dass die Seite auch für Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen auf robuste Art und Weise wahrnehmbar, bedienbar und verständlich sein muss. Diese „Four Principles of Accessibility” stellen die Grundlage der Web Content Accessibility Guidelines (WCAG), die häufig als Standard für barrierefreie Websites verwendet werden, und auf denen auch das BFSG basiert.

Beispiele für konkrete Maßnahmen die Barrierefreiheit ermöglichen und die UX verbessern

Für eine Website bedeutet das zum Beispiel, dass Farbe nicht das einzige visuelle Mittel sein darf, um eine Information zu transportieren, eine Aktion anzuzeigen oder eine Reaktion zu erbitten. Da nicht alle Menschen Farben gleichermaßen gut erkennen oder unterscheiden können, ist dies ein wichtiger Faktor. Zudem sollten Texte sich immer mit einem deutlich sichtbaren Kontrast von ihrem Hintergrund bzw. ihrer Umgebung abheben. Nur so sind sie zuverlässig auch für Menschen mit stark beeinträchtigtem Sehsinn noch erkenn- und lesbar.
Auch zu kleiner Text, der sich nicht vergrößern lässt oder Videos ohne Untertitel bedeuten, dass ein Angebot nicht barrierefrei ist. Ein weiterer großer Punkt sind Navigationselemente, die nicht oder nicht gut allein mit der Tastatur angesteuert und genutzt werden können. Barrierefreiheit betrifft aber ebenso komplizierte, verklausulierte und bürokratisierte Sprache oder auch Bilder ohne Alternativtext, der zum Beispiel für Screenreader genutzt werden kann.
Solche Schwachpunkte adressiert das BFSG und nimmt Unternehmen in die Pflicht, Websites entsprechend anzupassen. Werden die Anforderungen des BFSG aber konsequent und mit einer dahinterstehenden, umfassenden Idee umgesetzt, steht am Ende des Prozesses nicht nur eine barrierefreie Website. Vielmehr kann auch die User Experience (UX) insgesamt deutlich verbessert werden.
Und die UX ist ein entscheidender Faktor für den Geschäftserfolg, denn die Ansprüche der Kunden steigen. Interessierte Verbraucher:innen, die auf einer Website Probleme haben, sich über ein nachgefragtes Produkt zu informieren, werden kaum zu Neukunden. Bietet ein Konkurrent ein ähnliches Produkt, eingebettet in eine intuitive, komfortable User Experience, fällt die Kaufentscheidung leicht. Gleiches gilt für die Kundenbindung. Um die Zufriedenheit bestehender Kunden zu sichern und diese zu halten, ist eine gute User Experience ebenso zentral. Sie hat somit direkten Einfluss auf Umsatz und Erfolg eines Unternehmens.

UX und Barrierefreiheit gehen Hand in Hand und Verbessern die Auffindbarkeit und Nutzbarkeit von Online-Services

Umso erstaunlicher, dass die Optimierung der UX oft kein Fokusthema ist. Es mangelt an Daten über Erfahrungen und Erlebnisse der Zielgruppe, an Verständnis und insbesondere an der Bereitschaft, nötige Investitionen zu tätigen. Denn eine holistische Überarbeitung und Optimierung des Nutzererlebnisses ist kein Projekt, das in wenigen Wochen abgeschlossen wäre.
Durch das BFSG werden nun jedoch umfassende Anpassungen ohnehin notwendig. Zwar gilt das BFSG erst ab 2025, die für Umsetzung notwendigen Analysen und Überarbeitungen sollten Unternehmen jedoch so bald wie möglich angehen. Die Umsetzung des BFSG ist dabei die ideale Gelegenheit, auch die User Experience zu optimieren.
Wer gerade nur eine Hand frei hat oder wo die Sonne auf ein Display scheint, freuen sich User:innen universell über bessere Bedienbarkeit und Lesbarkeit. Zusätzlich setzt Barrierefreiheit voraus, dass eine Website klar gegliedert ist und Elemente deutlich und eindeutig markiert sind. Dies wiederum sorgt für einen besseren, schlankeren Code, schnellere Websites – und verbessert die Suchmaschinenoptimierung.
Zu Beginn dieses Prozesses muss dabei zunächst die Datensammlung stehen: Wie gut ist die UX? Wie barrierefrei ist die Website bereits? In der Regel haben Unternehmen nur ein unvollständiges Bild hiervon, das es zunächst zu vervollständigen gilt. Für einen ersten Überblick können frei zugängliche Tools hilfreich sein, genauere Analysen und Bewertungen von UX und Barrierefreiheit bieten spezialisierte Dienstleister und Beratungen. Anhand von Scores und Analysen können Stellen identifiziert werden, an denen eine Adaption notwendig ist.

Kennzahlen als Hebel

Dabei ist es über den gesamten Prozess - begonnen bei der Analyse bis zur laufenden Optimierung - wichtig, konsequent KPIs zu erheben. Diese Kennzahlen sind einerseits zentral, um die langfristigen Veränderungen der UX einer App oder Website aufzuzeigen. Damit sind sie gleichzeitig auch ein zentrales Instrument für die interne Kommunikation. Denn für eine erfolgreiche Optimierung von UX und Barrierefreiheit ist es unerlässlich, alle internen Stakeholder von Marketing bis Management einzubinden.
Um erfolgreich und eindrücklich die Bedeutung des Nutzererlebnisses für Kundenverhalten und Geschäftserfolg zu demonstrieren, sind KPIs dieser Art ein wirkungsvoller Hebel. So kann die Bedeutung von UX-Elementen verdeutlicht werden, was wiederum die Chancen erhöht, das Thema UX zukünftig intern zentraler zu positionieren – und Investitionsentscheidungen günstig zu beeinflussen.

Fazit

Zusammengefasst lässt sich also sagen: Das BFSG bringt viele Herausforderungen und bedeutet zusätzliche Belastungen für Unternehmen. Doch bietet es gleichzeitig auch die ideale Gelegenheit, konzentriert, analytisch und ganzheitlich auf die bestehende User Experience und Customer Journey zu blicken. Denn Anpassungsaufwand wird durch das BFSG ohnehin notwendig. Damit eröffnen sich große Potentiale, um Synergien zu schaffen und den eigenen Webauftritt komfortabel und zukunftsfähig aufzustellen.
Quelle: Christoph Riedl
Christoph Riedl ist Managing Consultant für UX-Design und Modern Frontends bei Q_PERIOR. Er arbeitet seit mehr als 12 Jahren in der Software-Entwicklung. Besonders interessiert er sich für Design Systems, Design Thinking und User Testing. Derzeit arbeitet er in einem Multi-Stakeholder-Projekt bei einer führenden deutschen Forschungseinrichtung.
Quelle: Martin Kreitl
Martin Kreitl ist Consultant für UX-Design und Modern Frontends bei Q_PERIOR. Er arbeitet seit mehr als fünf Jahren in der Software-Entwicklung. Besonders interessiert er sich für Design Systems, Suchmaschinenoptimierung und Barrierefreiheit. Derzeit arbeitet er in einem Multi-Stakeholder-Projekt bei einer führenden deutschen Forschungseinrichtung.


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