Editorial 13.11.2017, 00:00 Uhr

Das letzte Feature

Er hatte diese Software seit 24 Jahren gepflegt. Hatte ihr Leben und Sinn eingehaucht. Hatte sie angepasst und immer wieder Fehler entfernt.
Er hatte die Software mit jedem Arbeitstag verjüngt, während er selbst jeden Tag älter wurde. Neuere Technologien hatte er eingebaut, sodass er mit Fug und Recht sagen konnte, dass sie den aktuellen Standards in der Softwareentwicklung gehorchte.
Wenn irgendein neues Feature gewünscht oder ein Fehler gefunden wurde, wusste er sofort, wo er im Code zu suchen hatte beziehungsweise wo das einzufügen wäre. Die Arbeit an der Software war seine Bestätigung.
Selbstständig hatte er neue Funktionen eingebaut, nachdem er mit den Anwendern gesprochen hatte. Die liebten ihn, hatten ihn schon mehrfach zum Mitarbeiter des Monats gewählt, denn er setzte die Dinge um, die ihre Arbeit einfacher machte. Vor allem aber vertrauten sie ihm. Wenn er sagte, er mache das bis dann und dann, dann war es zu dem Termin auch fertiggestellt.

Und wenn er sagte, dass ein Feature aus irgendwelchen Gründen nicht umzusetzen sei, gab es kein einziges Murren.

Doch etwas hatte sich in den letzten Monaten verändert: Wenn er mit seinen Kunden, den Kollegen, sprach, sie nach Problemen mit der Software fragte, sie aushorchte oder neue Funktionen vorschlug, erntete er immer häufiger ein Kopfschütteln und Schulterzucken. Die Software näherte sich dem Endzustand. Gute Architektur, keine Fehler und vor allem: alle Funktionen, die die Anwender benötigten. Der langsame Tod des Universums. Maximale Entropie.
Und plötzlich fühlte er sich alt – so alt. Seine Software tat ihren Dienst fehlerlos und ganz ausgezeichnet. Und sie löste sich dadurch vor den Augen der Anwender in Luft auf.
Denn sie war selbstverständlich geworden. Zuverlässig und einfach – ein Ding des Alltags. Sie würde unsichtbar noch viele Jahre ihren Dienst tun, denn die Thematik, für die sie benötigt wurde, war immer noch eine aktuelle.
Aber was sollte er denn die noch verbleibenden Jahre bis zur Rente tun? Wie sollte er verbergen, dass er eigentlich gar nicht mehr nötig war, dass er sich selbst wegrationalisiert hatte – er, in dem Kämmerchen, der Programmierstube, auf dem Abstellgleis? Er würde noch mal etwas Neues beginnen müssen und das der Geschäftsführung so gut verkaufen, dass sein Posten auch weiterhin sicher war. Er mit seinen 59 Jahren.
Viel Spaß mit der dotnetpro wünscht Ihnen
Tilman Börner
Chefredakteur dotnetpro
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