Arbeitszeitverkürzung 18.04.2022, 00:00 Uhr

Drei Mythen über die 35-Stunden-Woche

Mehr Stress für Mitarbeitende, mehr ­Kosten für Unternehmen und ein Karriere­hindernis sowieso – das hört man oft, wenn es um das Thema Arbeitszeitverkürzung geht. Aber stimmt das wirklich?
(Quelle: Foto: Olivier Le Moal  / Shutterstock)
Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit in den Ländern der EU lag 2020 bei 40,5 Stunden [1]. Damit bewegen sich Arbeitnehmer:innen hierzulande im europäischen Vergleich im Mittelfeld. Doch die tatsächlichen Zahlen dürften weitaus höher liegen. Denn viele Beschäftigte sind auch außerhalb der klassischen Arbeitszeiten tätig. Hinzu kommt, dass die Grenze zwischen Job und Privatleben seit der Pandemie immer mehr verschwimmt und viele Angestellte auch außerhalb der regulären Dienstzeiten abends, nachts und am Wochenende tätig sind.
Viele Berufstätige möchten ihre Arbeitswoche gerne verkürzen, immer mehr Unternehmen sind bereits auf dem Weg dahin. Die Diskussion um eine 35-Stunden-Woche ist derzeit so aktuell wie nie. Damit verbunden ranken sich viele Mythen um dieses Thema, die beim genaueren Hinsehen entlarvt werden können.

Mythos 1:
Mitarbeitende sind gestresster, weil sie mehr leisten müssen

Wagen wir zunächst einen Blick nach Island. Das Land im Norden Europas ist in puncto Beschäftigungszeit Vorreiter. Denn dort wurde im großen Stil erprobt, ob eine Arbeitszeitreduzierung von 40 auf 36 Stunden oder weniger zu mehr Leistung und Service führt. Das wenig überraschende Ergebnis: Die Work-Life-Balance der Studienteilnehmer:innen ­verbesserte sich bei gleichbleibender und sogar gestiegener Produktivität.
Wer wie Programmierer:innen, Softwareentwickler:innen und Servicetechniker:innen viel am PC tätig ist, weiß, dass die Produktivität und die Kreativität nach einigen Stunden am Rechner nachlassen. Wer aber seine Arbeitszeit verkürzt und sich mehr Freizeit und Auszeiten gönnt, hat mehr Zeit für Erholung und Ausgleich, sodass das Risiko für stressbedingte Krankheiten wie beispielsweise Burn-out sinkt. Es besteht also die Chance für Arbeitgeber:innen, dass Beschäftigte weniger Krankheitstage haben.
Tipp: Natürlich kann es bei einer 35-Stunden-Woche ­vorkommen, dass Mitarbeitende Überstunden machen und damit der gewünschte Effekt schlicht wieder verloren geht. Um das zu vermeiden, ist es wichtig, Prozesse und Aufgaben anzupassen, stärker zu priorisieren und Zeitfresser im Betrieb aufzuspüren.

Mythos 2:
Unternehmen können sich eine 35-Stunden-Woche nicht leisten

Natürlich fragen sich viele Firmen, ob ihre Beschäftigten in weniger Zeit dieselbe Gesamtleistung erbringen wie in acht Stunden. So befürchten viele Betriebe, dass ein Ungleichgewicht hinsichtlich der Aufträge und der vorhandenen Ressourcen entsteht.
Es ist eine veraltete Annahme, dass Arbeitnehmer:innen in mehr Stunden, die ihnen zur Verfügung stehen, auch mehr leisten. Spielen wir den Ball an Kritiker:innen mit der Frage zurück, ob sich eine Organisation kranke Mitarbeiter:innen leisten kann. Psychische Erkrankungen sind eine der häufigsten Ursachen für Arbeitsunfähigkeit in Deutschland. Die mentale Gesundheit und Corporate Wellbeing rücken in allen Unternehmen zunehmend in den Vordergrund.
Eine weitere Frage, die sich stellt: Können Unternehmen es sich leisten, von einer durchschnittlichen Arbeitsbelastung auf eine unterdurchschnittliche Arbeitsbelastung (35 Stunden) herunterzugehen? Wer 40 oder mehr Stunden in der ­Woche dem Job widmet, hat weniger Freizeit und damit verbundene Erholung. Doch ist auf dem Arbeitsmarkt deutlich spürbar, dass es Anwärter:innen wichtiger ist, mehr Zeit für Freizeit und Familie zu haben. Diese Bedürfnisse zu ignorieren kann bedeuten, Mitarbeitende zu verlieren. Der Weggang von Kolleg:innen bedeutet wiederum, mehr Ressourcen für Recruiting und Einarbeitung bereitstellen zu müssen.
Tipp: Zeit sparen, um die reduzierte Arbeitszeit zu kompensieren – für viele Unternehmen ist dies eine große Herausforderung. In jeder Firma gibt es Zeitfresser; so können Vorgesetzte beispielsweise die Meetingkultur auf den Prüfstand stellen. Darüber hinaus bietet es sich an, bestimmte Arbeitsprozesse im Betrieb zu überdenken. Administrative Aufgaben, die nicht zwangsläufig in Verbindung mit dem Kerngeschäft stehen, können ausgelagert werden. Digitale Tools, wie beispielsweise eine automatische Zeiterfassung, erleichtern zusätzlich den Joballtag und sparen viel Zeit.

Mythos 3:
Eine 35-Stunden-Woche hemmt die eigene Karriere

In vielen Unternehmen ist eine 40-Stunden-Woche ganz normal gelebte Realität. Wer sich Stellenanzeigen einmal genau anschaut, wird sehen, dass es kaum Jobangebote gibt, wo auch eine reduzierte Arbeitswoche möglich ist. Fakt ist, dass Fachkräfte auf dem deutschen Jobmarkt gefragt, allerdings auch rar sind. Vor allem in der IT werden gut ausgebildete Talente gesucht – egal ob Berufseinsteiger:innen oder Profis. Das bedeutet aber auch, dass Unternehmen hier am Zug sind und potenziellen Bewerber:innen zeitgemäße Benefits anbieten müssen.
Um im „War for Talents“ zu bestehen, müssen sich Firmen inzwischen bei Talenten bewerben – und nicht andersherum. Um für Anwärter:innen attraktiv zu sein, spielt längst nicht mehr nur das Gehalt eine Rolle. Eine gute Balance zwischen Freizeit und Arbeit ist vor allem für Berufseinsteiger:innen unabdingbar.
Tipp: Bei einer verkürzten Arbeitszeit kann ebenso viel in einem Unternehmen erreicht werden wie in einer 40-Stunden-Woche. Auch leitende Positionen können genauso gut in 35 Stunden ausgeführt werden. Geschäftsführer:innen sollten hier mit gutem Beispiel vorangehen. Auch wenn in vielen Branchen 40 Stunden und mehr üblich sind, um sich zu beweisen, Überstunden gehören dort oft zum guten Ton. Andererseits haben Unternehmen mit Vorzeigecharakter bessere Chancen, im „War for Talents“ zu bestehen.

Fazit:
35-Stunden-Woche als zeitgemäßer Benefit für glückliche Mitarbeiter:innen

Weniger arbeiten, produktiver sein und mehr Freizeit für Familie und Hobbys – für immer mehr Beschäftigte klingt das verlockend. New Work, Remote-Arbeit und flexible Arbeitszeitmodelle sind längst keine leeren Worthülsen mehr, sondern von immer mehr Organisationen gelebte Realität. Wer als Betrieb seinen Teams die Möglichkeit gibt, ihre Arbeitszeit zu verkürzen beziehungsweise frei einteilen zu können, bekommt im Gegenzug weniger gestresste, motiviertere, produktivere und schlussendlich glücklichere Mitarbeiter:innen (Bild 1). Letztendlich also Talente, die eher bereit sind, sich langfristig an ein Unternehmen zu binden.
Unternehmen müssen gemeinsam mit ihren Mitarbeitenden die Stellen so weiter­entwickeln, dass diese sich damit identifizieren können (Bild 1)
Quelle: Autor
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